Nachruf für Werner Keller
am 26.03.2018 in der Wetzlarer Goethe-Gesellschaft
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Goethe-Freunde,
Die Wetzlarer Goethe-Gesellschaft trauert um Werner Keller.
Professor Dr. phil. Dr. h.c. Werner Keller, von Dezember 1990 bis Mai 1999 Präsident der Goethe-Gesellschaft in Weimar, anschließend deren Ehrenpräsident, seit 2000 Träger des Bundesverdienstkreuzes, seit 2010 Inhaber der Goldenen Goethe-Medaille der Goethe-Gesellschaft in Weimar, Ehrenbürger der westgeorgischen Stadt Kutaissi als Anerkennung für die seit 1997 geleistete Finanzierung eines Kinder- und Altenheimes.
Geboren wurde Werner Keller am 16. Januar 1930 ín Calmbach, einem heute zu Bad Wildbad gehörenden Ort im nördlichen Schwarzwald. Er studierte in Tübingen Germanistik, Geschichte und Philosophie und legte 1960, im Druck 1964, seine Dissertation zum Thema „Das Pathos in Schillers Jugendlyrik“ vor. 1961 erhielt er eine Assistentenstelle an der Universität Köln. Das dortige Institut für deutsche Sprache und Literatur wurde seine berufliche Heimat. 1969, im Druck 1972, erschien seine Habilitationsschrift zum Thema „Goethes dichterische Bildlichkeit“, von 1975 bis zu seiner Emeritierung 1995 war er als Professor und Direktor am genannten Kölner Institut tätig. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Tätigkeit waren die Geschichte der Lyrik, Hölderlin, Dramentheorie, vor allem aber die Weimarer Klassik, Goethes Lyrik und Goethes ‚Faust‘.
Werner Kellers Verdienste als herausragender Gelehrter und Goetheforscher sind indes nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist der zur Unterstützung Bedürftiger rastlos tätige Mensch, der Goethes Ethos der tätigen Hilfe zum Leitprinzip seines Lebens machte. Bereits kurz nach dem Antritt seiner Kölner Professur sorgte Werner Keller gemeinsam mit Heinrich Böll dafür, dass der ausgebürgerte russische Autor Lew Kopelew 1981 die Ehrendoktorwürde der Universität Köln erhielt und in Köln eine neue Heimat finden konnte.
Ab 1993 stellte Keller Geld für Goethe-Stipendien zur Verfügung, die vor allem ost- und südosteuropäischen Studenten und Doktoranden dreimonatige Aufenthalte in Weimar ermöglichten. Seit 2010 sind diese als Werner-Keller-Stipendien benannt. Die aktuellen Stipendiaten sind jeweils auf der Internetseite der Goethe-Gesellschaft in Weimar aufgelistet.
Mit seiner Unterstützung gelang die Gründung zahlreicher ausländischer Goethe-Gesell-schaften, darunter der im russischen Tambow, zu der unsere Goethe-Gesellschaft seit 1994 eine Partnerschaft unterhält, die bis heute besteht und im nächsten Monat anlässlich des 100. Geburtstages von Lili Kaufmann, der langjährigen Vorsitzenden, wieder persönliche Begeg-nungen ermöglicht.
Das von umfassender Hilfsbereitschaft, Pflichterfüllung und Dankbarkeit geprägte Wesen Werner Kellers wäre ohne die Kenntnis seiner Kindheit und Jugend nicht zu verstehen. Im Alter von 5 Jahren verlor er seinen Vater, die Mutter blieb mit 10 Kindern zurück.
In der Einleitung zu einem Band seiner gesammelten Aufsätze, der 2009 in der Reihe der Schriften der Goethe-Gesellschaft erschien, hat Keller über seine Familienmitglieder geschrieben: „Sie haben mich, wir haben einander dazu erzogen, daß das Personalpronomen ‚ich‘ nur gebrauchen sollte, wer den Anspruch des ‚wir‘ mitbedacht hat. Nach dem frühen Tod des Vaters (1935) und der Einschränkung durch mancherlei Not erlegte ich mir […] eine bewußte Selbstbegrenzung auf, um Menschen in unverschuldeter Bedrängnis zu helfen. Durch Vorträge und Bittgänge gelang es in den letzten zwei Jahrzehnten, ausländische Goethe-Gesellschaften zu gründen und zu fördern und mehr als zweihundert Stipendiaten nach Deutschland einzuladen.“ Bei all diesen Bemühungen hat Keller stets nach Goethes Wort gelebt: „Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages.“ (Maximen und Reflexionen 443)
In persönlichen Gesprächen hat mir Werner Keller oft über seine Kindheit und Jugend berichtet. Danach war es mehr als „mancherlei Not“ – wie er aus großer zeitlicher Distanz schrieb –, oft waren es Verzweiflung und Zukunftsangst, die in der Familie herrschten. Keller war gezwungen, sich früh durch die Übernahme kleiner Tätigkeiten am Unterhalt der Familie zu beteiligen. Bevor er das erste Geld, das er verdiente, bei der Mutter ablieferte, gönnte er sich – bescheiden – selbst etwas davon: Er erwarb ein Reclam-Heft – ein Omen, welche Rolle die Literatur in seinem Leben spielen sollte?
Am 23. Februar 2018 ist Werner Keller nach langer Krankheit, wenige Woche nach seinem 88. Geburtstag, in seiner Kölner Wohnung gestorben. Die Urnenbeisetzung fand am 16. März in seinem Heimatort Calmbach statt. Die gleichermaßen schlichte wie würdige Zeremonie, an der ich teilnehmen durfte, bei der eine Harfe die übliche Orgel ersetzte, entsprach Werner Kellers bescheidener Art und seiner Vorliebe für leise Töne.
Mein Nachruf wäre unvollständig ohne die Erwähnung von Frau Dr. Mechthild Keller, die sich über Jahrzehnte an der Seite ihres Mannes für die gemeinsamen Ziele aufopferungsvoll eingesetzt hat.
Unsere Wetzlarer Goethe-Gesellschaft durfte sich Werner Kellers Zuwendung in besonderer Weise erfreuen. Mit meinem Vorgänger Friedrich Wilhelm Hedrich verband ihn eine enge Freundschaft. Als dieser ihm telefonisch seine Krebserkrankung mitteilte, an der Hedrich im Februar 1995 verstarb, weinten beide gemeinsam. Als ich 1996 den Vorsitz übernahm, wurde Werner Keller mir bald zu einem väterlichen Freund und Mentor. Nachdem er den Besuch der Jahrestagungen der deutschen Ortsvereinigungen aus Altersgründen bereits seit einigen Jahren aufgegeben hatte, machte er noch einmal eine Ausnahme und besuchte mit seiner Frau unsere Jahrestagung in Wetzlar in den ersten Maitagen des Jahres 2008, was wir als eine besondere Ehre empfunden haben.
Lassen wir Werner Keller abschließend noch einmal selbst zu Wort kommen. In einem Grußwort zu unserem 25jährigen Jubiläum im Jahr 1999 sagte er: „Zweimal fuhr ich mit der Bundesbahn ins Lahntal, zweimal versetzte ich mich in die Wertherzeit, zweimal sagte ich mir aus Werthers Briefen vor, was das Gedächtnis bereit hielt. ‚Ich weiß nicht, ob täuschende Geister um diese Gegend schweben, oder ob die warme, himmlische Phantasie in meinem Herzen [es] ist, die mir alles rings umher so paradiesisch macht.‘ Beide Male stieg ich – erwartungsfroh – zu früh aus.“
Mechthild Keller hat in der Nachricht vom Tode ihres Mannes folgende Worte gefunden: „Dankbar bis zuletzt, vollendete er seinen Weg. … Was ihm Leitspruch und Ermutigung war, sei sein Zuruf an uns: ‚Wie es auch sei, das Leben, es ist gut.‘“
Manfred Wenzel