Liebe Frau Kunkel, meine sehr verehrten Damen und Herren,
ein großer Frankfurter Dichter und Begründer der Neuen Frankfurter Schule, Robert Gernhardt, schlüpfte in den 1970er Jahren in die Rolle des Apostels Paulus. Heraus kam eine Reihe von prägnant zugespitzten Kurzgedichten im Stil der Sponti-Sprüche der 68er Bewegung. Zu einem dieser Sprüche will ich mich in meiner Verlegenheit hier und jetzt flüchten. Er lautet: „Paulus schrieb den Irokesen: Euch schreib ich nichts, lernt erst mal lesen.“ Ob Robert Gernhardt den Irokesen tatsächlich Bildungsferne andichten wollte, möchte ich bezweifeln. Wichtiger scheint mir für die Auslegung des Gedichts, dass es selbst für den Apostel Momente gab, in denen er nichts zu schreiben, respektive zu sagen wusste. Und so geht es mir heute. Ich muss es leider rundheraus zugeben: Vom Goethe-Institut kommt für die heutige Veranstaltung kein Grußwort. Lassen Sie mich bitte mit ein paar Sätzen um Verständnis für diese Verweigerung werben.
Es ist nur wenig bekannt, dass das Goethe-Institut zu seinem Namen kam wie die berühmte Jungfrau zum Kind. Im Vorfeld des Goethe-Jubiläumsjahres 1932 plante die in München ansässige Deutsche Akademie, eine von Geistesgrößen wie Thomas Mann gegründete Einrichtung zur Förderung deutscher Nationalkultur, ein Institut zur Ausbildung ausländischer Deutschlehrer ins Leben zu rufen. Die Finanzen waren jedoch knapp. Deshalb wandte man sich an die Goethe-Gesellschaft, die dabei war, Spenden für das besagte Goethe-Jubiläum einzusammeln. Man sicherte zu, dass gegen Beteiligung an dem Spendenaufkommen das neue Institut den Namen Goethe-Institut tragen werde. Dies sei dann für beide Seiten, wie man heute sagen würde, eine „win-win-Situation“. Ob damals Spenden nach München flossen, lässt sich der Aktenlage nicht mit Sicherheit entnehmen. Der Taufname der Einrichtung war damit jedoch gefunden und wurde im Jahr 1951, bei der politischen Neugründung des Goethe-Instituts, einfach beibehalten.
Das heutige Goethe-Institut stellt man sich am besten am Beispiel des berühmten Tischbein-Porträts „Goethe in der römischen Campagna“ vor. Der große Hut repräsentiert Goethe als Schirmherrn der Institution. Er findet seine Entsprechung im sorgfältig gepflegten Markenauftritt des Goethe-Instituts mit Logo, österlich-grüner Signalfarbe und allem, was sonst noch zur Darstellung der „corporate identity“ dazugehört.
Unter diesem großen Hut wirft sich allerdings nicht der Namenspatron in Pose. Diese Position wird vielmehr vom Generalsekretär des Goethe-Instituts eingenommen. Anstelle des Dichters findet man also einen Kulturmanager. Was ihn mit Goethes Erbe verbindet, wird er sicherlich im privaten Gespräch gerne offenlegen. In offizieller Funktion reduziert sich seine Goethe-Affinität aber zwangsläufig auf folgende, mantra-artig vorzutragenden Verse: „Zum Gelde drängt, am Gelde hängt doch alles. Ach, wir Armen!“. Dabei hofft er, dass die mit diesem Anklang an Goethes Faust angesprochenen politisch Verantwortlichen reflexartig das Reimwort „Erbarmen“ assoziieren und entsprechend handeln.
Vielleicht konnte ich Ihnen damit nahebringen, dass zwischen der Sphäre eines auf allen fünf Kontinenten Verantwortung tragenden Kulturmanagements und dem ehrenamtlichen und bürgerschaftlichen Engagement, für das die Wetzlarer Goethe-Gesellschaft seit 50 Jahren in herausragender Weise einsteht, Welten liegen. Trotzdem bleiben die Kultur und die Pflege des kulturellen Erbes gemeinsame Bezugspunkte, an denen zu arbeiten sich unbedingt lohnt, egal aus welcher Perspektive.
Ich wünsche dem Vorstand, den Mitgliedern und dem Publikum der Wetzlarer Goethe-Gesellschaft, dass Sie auch weiterhin die Fackel der Kultur und Literatur in dieser Stadt hochhalten. Es braucht daraus nicht gleich ein weltweites Lauffeuer zu entstehen, wie es der Werther-Roman erzeugt hat.
Dr. Uwe Petry