Literarisches Leben in Wetzlar

Konnte die Menschheit so tief sinken?

1791 veröffentlicht der Wetzlarer Autor Friedrich Wilhelm Pilger seine „Wetzlarischen Annalen“ – In der moralischen Wochenschrift nimmt der Pfarrerssohn auch das Verbrechen des Kindsmords unter die Lupe

Von Stephan Scholz

Wetzlar. Das Jahr 1791. Es ist gerade mal zwei Jahre her, dass die Revolution in Frankreich die absolute Monarchie in einem Sturmlauf weggefegt hat. Hunger und soziale Nöte waren einer der Auslöser, der Geist der europäischen Aufklärung, die menschliches Handeln und gesellschaftliches Zusammenleben auf die Grundlage der Vernunft stellen möchte, ein anderer. Auch in Deutschland erfreut sich aufklärerisches Gedankengut, das Philosophen wie der Königsberger Immanuel Kant verbreiten, großer Beliebtheit. Zahllose Werke erscheinen, darunter auch so genannte moralische Wochenschriften wie die „Wetzlarischen Annalen“, die der Pfarrersohn Friedrich Wilhelm Pilger 1791 veröffentlicht. Besonders interessant: In einer Artikelserie untersucht Pilger das Phänomen des Kindsmord, das in dieser Zeit die Gemüter erhitzt.

„Konnte die Menschheit so tief sinken, konnte sie ihres erhabenen Ursprungs so sehr vergessen, dass in ihrer Mitte die scheußlichste aller Untaten sollte vollbracht werden? Welche die Hand einer Mutter mit Tigerwut wider das Leben ihres schuldlosen Säuglings waffnete und ihre Raserei anfachte, gegen ihr eigen Fleisch und Blut zu wüten?“, fragt sich Pilger. Gleich zu Beginn seiner Artikelserie „Ideen über das Verbrechen des Kindermords und dessen Strafe“ stellt der Pfarrerssohn, der 1761 in Wetzlar geboren wurde und später Jura studierte, die Grausamkeit des Verbrechens besonders hervor. Allerdings geht es dem Aufklärer, der in Hessen-Darmstadt seinen Militärdienst abgeleistet hat und trotz des Studiums der Rechtswissenschaften jahrelang als Veterinärmediziner praktizierte, keineswegs darum, die Täterinnen vorbehaltlos zu verurteilen. Im Gegenteil: Pilger, der um 1806 eine Professur für Tierarzneikunde in russischen Diensten antrat, fragt nach den Ursachen der Tötung. Und damit steht der Autor, der seine „Annalen“ bereits nach einem Jahr wieder einstellen musste, nicht allein. Man denke nur an die Gretchentragödie in Goethes Faust oder an das 1776 erschienene Theaterstück „Die Kindermörderin“ des Sturm-und-Drang-Dichters Heinrich Leopold Wagner, der in Kontakt zu Goethe stand. Kurzum: Die Denker der Zeit machten den Kindsmord zu ihrem Thema, allerdings nicht, um die Scheußlichkeit dieses Verbrechens öffentlich anzuprangern. Es ging vielmehr darum, die Justiz der Epoche und die drakonischen Strafen – Kindsmord wurde mit Todesstrafe geahndet – zu hinterfragen.

Das tut auch Pilger, dessen Artikelserie in den Wetzlarischen Annalen sechs Folgen umfasst und der vermutlich von einem aktuellen Fall angeregt wurde. Denn Stadtarchivarin Dr. Irene Jung hat herausgefunden, dass im März 1786 ein totes Baby am Stoppelberg gefunden wurde. In ihrem Artikel „Tatort Stoppelberg: Kindmörderin vergräbt Neugeborenes im Wald“ in der Aprilausgabe der Wetzlarer Hefte zeichnet Jung das Geschehen nach, das zur Verhaftung der Kindermörderin Anna Maria Kretschmer und ihrer Mutter führt. Beide werden eingesperrt, doch auch wenn unklar ist, was aus den Komplizinnen wurde, dürfte diese Tat ein Anlass für Pilgers Text gewesen sein. Und der mutet auch heute noch durchaus modern an, denn im Fokus steht die Frage, was eine Kindermörderin zu ihrer Tat treibt. Der Wetzlarer, der nach 1817 verstarb und 1791 auch die Schrift „Ideen über die Behandlung der Juden in Deutschland“ veröffentlichte, zeichnet die Schicksalskette idealtypisch nach. Von der Verführung eines unschuldigen Mädchens durch einen gewissenlosen Liebhaber, der sich aus dem Staub macht, als die Frau schwanger wird. – Nebenbei: Auch uneheliche Geburten wurden in dieser Zeit hart bestraft. – Von der Schwangerschaft, die die werdende Mutter verheimlichen muss, um nicht die Eltern gegen sich aufzubringen oder den Dienstherren, der sie mit Sicherheit hinausgeworfen und so in die Armut gestürzt hätte. Von der nächtlichen Geburt in aller Stille, bei der das Kind entweder aus Unachtsamkeit der unerfahrenen Mutter stirbt oder ihren Wahnvorstellungen zum Opfer fällt. Und am Ende stellt sich die Frage: Ist der Tod durch das Schwert in diesen beiden Fällen gerecht? Pilger sagt Nein und wirft der Justiz seiner Epoche schwere Versäumnisse vor, da sie nicht nach den Ursachen der Kindstötung fragt, sondern pauschal aburteilt. Die Kindsmörderin, die nicht aus kalter Berechnung tötet, wird zum Opfer der Gesellschaft und der Rechtssprechung. Das macht den Text, der immerhin über 200 Jahre alt ist und weniger die Grausamkeit als vielmehr die Umstände eines Verbrechens unter die Lupe nimmt, bis heute zu einem intellektuell anregenden Stück Gesellschaftskritik. Und wer sich für die Aufklärung im heimischen Raum interessiert, dem seien die zum Teil auch satirischen Wetzlarischen Annalen wärmstens ans Herz gelegt.


Im 18. Jahrhundert Literaturgeschichte geschrieben

1767 kommt der Jurist und Schriftsteller Friedrich Wilhelm Gotter zum ersten Mal nach Wetzlar – Bekannt wurde er als Herausgeber und Dichter des „Göttinger Musenalmanach“

Von Stephan Scholz

Wetzlar. Mai 1767. In diesen Tagen dürfte einiges los gewesen sein in der Stadt, denn zur Überprüfung des Reichskammergerichts wurde soeben die große Visitation gestartet. Von überall her kommen Gesandte und Legationssekretäre nach Wetzlar, darunter auch Friedrich Wilhelm Gotter, der den Freiherrn von Gemmingen im Auftrag des Herzogtums Sachsen-Gotha an die Lahn begleitet. Wer dieser Gotter war? Ab etwa 1770 ein bekannter und später durchaus gefeierter Autor, doch in diesem Mai ist er einfach ein Jurist unter vielen.

Lange bleibt Gotter, der als Sohn einer wohlhabenden Familie am dritten September 1746 in Gotha geboren wurde, zunächst jedoch nicht in Wetzlar. Denn als sich 1768 die Gelegenheit ergibt, zwei junge Adlige nach Göttingen zu begleiten, ist der Jurist und Schriftsteller sofort Feuer und Flamme. Gut so, möchte man aus der Rückschau heute sagen. Warum? Deshalb: In der altehrwürdigen Universitätsstadt angekommen, schreibt er Literaturgeschichte als er mit Freund Heinrich Christian Boie den berühmten „Göttinger Musenalmanach“ begründet und darin selbst gefeierte Gedichte veröffentlicht. Jungen Schriftstellern bot diese Zeitschrift ein öffentliches publizistisches Forum, das man in seiner Bedeutung nicht unterschätzen darf. Denn der erstmals 1770 erschienene Almanach war auch eine der wichtigen Keimzellen für den 1772 etablierten „Göttinger Hainbund“, der einer der bedeutendsten literarischen Zirkel in Deutschland wurde. Zurück zu Gotter: Mit der Etablierung des Musenalmanach und den darin enthaltenen eigenen Gedichten  hat sich der Autor seine literarischen Sporen verdient. Doch auch in Göttingen hält es ihn nicht lange. Über eine Zwischenstation in seiner Heimatstadt kehrt er 1770 zurück nach Wetzlar, wo die große Visitation immer noch im Gange ist. Wie es so in der Stadt zugegangen ist? Klar, natürlich stand die Juristerei im Vordergrund, aber die Herren haben es auch verstanden, zu feiern und sich von kulturellen Veranstaltungen wie Theateraufführungen unterhalten zu lassen. In dieses Milieu kommt Gotter jetzt zurück, um sich einem kleinen intellektuellen Kreis anzuschließen, zu dem ab 1772 auch der Gerichtspraktikant Johann Wolfgang Goethe und der braunschweigische Legationssekretär Karl Wilhelm Jerusalem gehören. Nach zwei Jahren bricht der Sachse seine Zelte in Wetzlar wieder ab. Kaum ist er nach Gotha zurückgekehrt, als ihn ein Ereignis zutiefst erschüttert: Freund Jerusalem hat sich in der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 1772 erschossen. Gotter ist in tiefer Trauer und hinzukommt, dass auch die eigene Gesundheit jetzt immer schlechter wird. Zu einer Erholungsreise bricht der Schriftsteller 1774 in Richtung Lyon auf, und diese Tour, bei der er auf der Rückreise Station beim berühmten Schweizer Johann Caspar Lavater macht, stärkt seine Kräfte zunächst. Wer dieser Lavater war? Ganz klar: einer der berühmtesten Intellektuellen der Epoche, der vor allem mit seinen physiognomischen Studien Furore machte. Vereinfacht gesagt behauptete der Schweizer, der ein Freund Gotters und auch Goethes wurde, dass man aus den Gesichtszügen eines Menschen auf den Charakter schließen könne. Lavater hat Gotter, der nach seiner Rückkehr nach Gotha von 1774 bis zu seinem Tod am 18. März 1797 neben der Schriftstellerei als Geheimsekretär gearbeitet hat, öfter in Sachsen-Gotha besucht. So weit, so gut. Doch was für Texte hat Gotter geschrieben?

Das Spektrum reicht von Gedichten über Prosa bis zu Dramen, und eines seiner bekanntesten Werke, der 1776 erschienene Dreiakter „Mariane“, ist ein Theaterstück, bei dessen Lektüre es heute noch gruselt. Verkürzt gesagt geht´s darum: Ein Vater hat Sohn und Tochter, doch damit der Sohn eine gute Partie machen kann, muss bei Schwester Mariane die Mitgift eingespart werden. Kurzerhand wird sie ins Kloster gesteckt, doch die Sache hat einen Hacken. Mariane verliebt sich in Waller, und das verändert das Leben der jungen Frau: „Ich war in meiner Einsamkeit nicht mehr einsam. Waller war immer um mich.“ Doch natürlich lässt sich der Vater dieses Durchkreuzen seiner Pläne nicht gefallen, und am Ende sterben Tochter und Verehrer. Insgesamt ein gelungenes, spannendes und vitales Drama, das Bücherfreunden wärmstens ans Herz gelegt sei. Ebenso wie das Gesamtwerk des Sachsen, denn soviel ist mal sicher: Friedrich Wilhelm Gotter, der in Wetzlar in der Hauser Gasse 16 Quartier bezog, hat im 18. Jahrhundert Literaturgeschichte geschrieben.


Napoleon liest Werther

Von 1876 bis 1880 lebte die Schriftstellerin Elise Polko in Wetzlar – Ihre heute vergessene Erzählung „Ein Idyll“ ist ein kleines Meisterwerk

Von Stephan Scholz

Wetzlar. Zugegeben, das klingt beim ersten Hören recht profan. Denn die Schriftstellerin Elise Polko (1823 bis 1899), die von 1876 bis 1880 in der Pariser Gasse 22 in Wetzlar lebte, hat ihre Erzählung zur Werther-Thematik schlicht „Ein Idyll“ genannt. Doch dieser Text, der 1890 im Band „Gesammelte Novellen“ erschien, hat es in sich. Und das nicht nur, weil sich Polko geradezu meisterhaft der deutschen Sprache bedient und eine Novelle geschrieben hat, die vor Bildhaftigkeit und Emotion nur so strotzt. Nein, was besonders beeindruckt ist die Geschichte selbst.

Ausgangspunkt der Handlung, die zwei Zeitebenen geschickt miteinander verbindet, ist der deutsch-französische Krieg der Jahre 1870/71. Beim Einmarsch in Frankreich findet ein deutscher Soldat in einem kleinen Schloss ein Buch, allerdings nicht irgendeins, wie der Erzähler aus einer Mitteilung in einem Feldpostbrief herausliest. „>>Ich fand<<, so lautete sie [die Mitteilung], >>ein zerlesenes Exemplar der ersten französischen Übersetzung des Göthe´schen Werther, in der kleinen interessanten Bibliothek des Schlosses, und auf dem Titelblatt ein verschlungenes N. und K. Das Buch, eine ganz gewöhnliche Ausgabe, stand inmitten einer Bücherreihe, die einst dem Kaiser Napoleon I. gehört haben soll, wenigstens war sie durch einen Zettel als sein ehemaliges Eigentum bezeichnet. Mit seltsamen Empfindungen blätterte ich an jenem Abend darin, – unser deutscher Werther war´s freilich nicht, der mir da begegnete. Farbe, Beleuchtung, alles erschien mir anders. Beim Abmarsch stellte ich das Buch vorsichtig auf seinen Platz zurück<<“. Diese Werther-Ausgabe und das im selben Raum befindliche Porträt einer jungen Frau nutzt Polko, die ursprünglich ausgebildete Sängerin war, um ihre Geschichte auf der zweiten Zeitebene fortzusetzen und tief einzutauchen ins Frankreich des Jahres 1791.

Genauer gesagt in eine kleine Gesellschaft, die sich in diesem Sommer regelmäßig im Garten von Madame Grégoire du Colombier und ihrer 17jährigen Tochter Karoline trifft. Um sich zu unterhalten, entscheidet die Versammlung, sich Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ vorlesen zu lassen. Noch am Anfang herrscht allerdings große Skepsis hinsichtlich des Buches: „Gibt es denn wirklich so großes Leid in der Welt, dass man ein ganzes Buch füllen könnte mit seiner Beschreibung?! Diese Deutschen nehmen nun einmal alles so ernsthaft! Etwas Liebesgram mussten viele durchmachen; – er verging und verwehte – selten starb doch wohl einer daran!“ Doch diese Vorbehalte sind schnell beseitigt, und schon ab der ersten Seite sind alle ganz Ohr. Doch der Clou ist ein ganz anderer: Der Vorleser, der Werthers Leiden in dem traumhaft schön beschriebenen Garten vorträgt, ist niemand anderer als Napoleon höchstselbst, zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht Kaiser sondern bloß französischer Offizier korsischer Abstammung. Es kommt noch besser, denn Tochter Karoline verliebt sich in den Soldaten, und es gelingt Polko, ihren eigenen Text stimmungsvoll mit Goethes Romanhandlung zu verweben. Auch Napoleon kriegt Karoline nicht, weil der spätere französische Imperator zu dieser Zeit noch viel zu arm ist, doch genau an diesem Punkt liegt der fundamentale Unterschied: Beide Liebenden sind keine Werther-Naturen. Karoline heiratet einen anderen, und auch Napoleon lebt weiter, um schließlich zum französischen Staatenlenker zu werden. Das ist die Handlung der Novelle von Elise Polko, die heute praktisch unbekannt sein dürfte. Zu Unrecht. Denn der Text ist ein kleines und fast unerhört schönes Meisterwerk, das den Leser durch die bildhafte Sprache mitnimmt in den kleinen französischen Garten und den Vergleich mit dem zeitgleich schreibenden Theodor Fontane durchaus nicht zu scheuen braucht. Wer Elise Polko war?

In ihrem Aufsatz „Elise Polko, Sängerin und Schriftstellerin“, erschienen im 40. Heft der Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins, haben Dr. Irene Jung und Petra Langhof das herausgearbeitet. Sie zeichnen das Bild einer jungen Frau, die – am 31. Januar 1823 als Tochter des Schuldirektors Vogel in Wackbartsruhe nahe Dresden geboren – sich zunächst aufmachte, Sängerin zu werden. Doch nach Ausbildungen in Leipzig und Paris und zahlreichen Auftritten ist diese Karriere schnell vorbei. Warum? Die junge Frau heiratet 1849 den Eisenbahner Polko, mit dem sie 1876 aus beruflichen Gründen schließlich nach Wetzlar kommt. Sie verlegt sich auf das Schreiben von Romanen, Gedichtbändchen, Erzählungen und Ratgebern für junge Frauen, die der Zeit gemäß noch deutlich als Anstandsbüchlein daher kommen. Nach nur vier Jahren ist die Wetzlarer Periode schon wieder vorbei, und Elise Polko stirbt schließlich 1899 in München. Heute ist die Autorin praktisch vergessen, zu Unrecht, wie die Erzählung „Ein Idyll“ eindrucksvoll beweist. Wer sich davon überzeugen möchte: Einige von Polkos Texten sind im Historischen Archiv der Stadt Wetzlar zu finden.

Literatur

  • Polko, Elise: Ein Idyll. In: Gesammelte Novellen. Wiesbaden: 1890.
  • Jung, Dr. Irene; Langhof, Petra: Elise Polko, Sängerin und Schriftstellerin. In: Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins. 40. Heft. Wetzlar: 2001.

Zurück zur Natur

1922 hat Max Dortu seinen Roman „Großstadt“ veröffentlicht – Von 1922 bis 1935 lebte der linksorientierte Schriftsteller in Wetzlar

Von Stephan Scholz

Wetzlar. Wer sich mit der Literatur des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts befasst, der stößt immer wieder auf ein Motiv: die Entfremdung des Menschen von sich selbst. Auch der heimische Autor Max Dortu macht da keine Ausnahme.
In seinem Roman „Großstadt“ aus dem Jahr 1922 lässt der Schriftsteller seine namenlose Hauptfigur an der Anonymität und Hektik der Stadt Berlin fast zerbrechen.

Heute sind Dortu, der mit Frau und drei Kindern in der Kirchgasse 1 gelebt hat, und sein Werk längst vergessen. Was allerdings bedauerlich ist, denn der in Nienstetten bei Celle geborene Literat schreibt durchaus eine flotte Feder. Sein Werk strotzt vor Bildhaftigkeit und wer seine Beschreibungen der Großstadt Berlin liest, der hat im Handumdrehen das Gefühl, den Ort riechen, hören und auch sehen zu können. Eine realistische Schreibe verbindet sich mit reichlich Allegorien und Metaphern wenn Dortu im Roman „Großstadt“ seinen namenlosen Helden  aus einer kleinen Industriestadt – der Name bleibt ungenannt – auf die Reise schickt. Ziel ist das große Berlin, und noch am Anfang ist alles in Ordnung. Merkwürdig, denn der Protagonist zieht als mittelloser Landstreicher durch die Gegend. Aber es geht ihm gut dabei, und was schon bei der Lektüre der ersten Seiten auffällt, ist das: In der Natur ist dieser Vagabund, aus dessen Perspektive der Roman „Großstadt“ ausschließlich geschrieben ist, ganz eins mit sich. „Meine Kirche ist der hochgewölbte Himmelsraum“ lässt Dortu seine Figur sagen, und „O Natur – Du hast mich zu einem neuen Menschen gemacht.“ Klar, das klingt sogleich nach dem großen Aufklärer Jean-Jacques Rousseau, der den entfremdeten Menschen der Moderne zur Heilung schon im 18. Jahrhundert zur Natur zurückbringen wollte und zu diesem Zweck unter anderem 1762 seinen großen pädagogischen Roman „Emile oder über die Erziehung“ vorgelegt hat. Und dieser Vergleich hat etwas für sich, auch wenn 160 Jahren zwischen den beiden Texten liegen.
Denn kaum kommt der Protagonist in die große Stadt, wo er sich zunächst als armer Obdachloser durchschlagen muss, ist es mit dem Einssein mit sich selbst vorbei. „O, die Großstadt, sie frisst mich am lebendigen Leibe auf“, leidet Dortus Held. Mit der Zeit kann er sich anpassen an Hektik, Ellenbogenmentalität und Anonymität. Auch wirtschaftlicher Erfolg stellt sich ein, allerdings um einen hohen Preis: Er verliert sein natürliches Selbst in der Stadt und wird zu einem bloßen Apparat, der nur noch äußeren Anforderungen gehorcht. Was ihn jetzt noch retten kann? Harte, ehrlich Arbeit, sagt Max Dortu, und natürlich die Natur: „Die Natur nahm mich ans alte, junge Herz“ jauchzt der Protagonist, als er Berlin entkommen ist und wieder als armer Gelegenheitsarbeiter und Landstreicher durch die Gegend zieht. Übrigens: Das Problem der Selbstentfremdung, das Dortu – der mit bürgerlichem Namen Karl Neumann hieß – beschreibt, ist in der Literatur der Zeit häufig und findet sich beispielsweise auch in den 1901 erschienenen berühmten „Buddenbrooks“ von Thomas Mann. Die Schriftsteller reagierten mit ihren Texten auf ein in der europäischen Gesellschaft weit verbreitetes Gefühl der Entfremdung, dass vor allem mit Verstädterung und der Industrialisierung, die um die Wende zum 20. Jahrhundert einen Höhepunkt erreichte, einherging. Dieses Phänomen hat in der Kunst reichlich Niederschlag gefunden, auch bei Max Dortu.

Wer dieser Dortu war? Viel ist nicht bekannt, allerdings hat Edda Hilbig in ihrem Aufsatz „Max Dortu. Ein vergessener Arbeiterschriftsteller der Weimarer Republik“, der 1988 im 33. Heft der Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins erschienen ist, einige Fakten zusammengetragen. Sie zeichnet das Porträt eines Mannes, der am 28. Juli 1878 geboren wurde und bereits 1892 mit seinen Eltern nach Italien auswanderte. Nach Stationen am Gardasee und in Venedig nimmt der 16jährige Reißaus, um als Gelegenheitsarbeiter und Vagabund durch die Welt zu ziehen. Mit 28 Jahren heiratet der linksorientierte Dortu, der 1922 mit seiner Familie nach Wetzlar zieht und auf die Tantiemen aus dem Schreiben von Gedichten, Prosa und journalistischen Texten angewiesen ist. Zwar kommt es zu einigen schriftstellerischen Anpassungen als die Nazis 1933 die Macht übernehmen.
Doch im Großen und Ganze ist Schriftsteller, der als Pseudonym den Namen eines Revolutionärs von 1848 gewählt hat und am 16. Juli 1935 verstarb, seiner linken Orientierung treu geblieben. Und wer sich für das Werk des Autors interessiert, der findet zahlreiche Texte im Historischen Archiv der Stadt Wetzlar.

Literatur

  • Dortu, Max: Großstadt. Leipzig: Feuer-Verlag 1922. (Im Historischen Archiv der Stadt Wetzlar)
  • Hilbig, Edda: Max Dortu. Ein vergessener Arbeiterschriftsteller. In: Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins. 33. Heft. Wetzlar:
    Selbstverlag des Wetzlarer Geschichtsvereins e.V., 1988.

(Erschienen in der Wetzlarer Neuen Zeitung und im Gießener Anzeiger.)


Werther in Warschau

1771 begründet der heute vergessene Dichter August Siegfried von Goué eine Wetzlarer Rittertafel, der auch Goethe angehören wird – Goués bekanntestes Werk „Masuren“ verlegt die Werther-Geschichte nach Warschau

Wetzlar (sh). Mai 1772. Soeben ist der junge Frankfurter Anwalt und Dichter Johann Wolfgang Goethe in der freien Reichsstadt Wetzlar eingetroffen, um ein Praktikum am hiesigen Reichskammergericht zu absolvieren. Kaum angekommen schließt sich der Autor, der vom literarischen Ruhm späterer Jahre noch weit entfernt ist, einer Rittertafel an, die sich regelmäßig im Gasthaus „Zum Kronprinzen“ am Domplatz trifft. Gegründet wurde sie von August Siegfried von Goué, einem Juristen und Schriftsteller, der heute längst in Vergessenheit geraten ist.

Zu Unrecht. Denn genau wie Goethe, der das Ereignis in seinem Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ verarbeitet hat, befasst sich auch Goué mit dem Selbstmord des braunschweigischen Legationssekretärs Karl Wilhelm Jerusalem, der ebenfalls zu der Rittertafel gehört hat. Er nahm sich am 29./30. Oktober 1772 in seiner Wohnung am Schillerplatz – heute Jerusalemhaus – das Leben.
In Wetzlar sorgte die Tat seinerzeit für erhebliches Aufsehen und längst ist diese Selbsttötung zu einem bedeutenden literaturgeschichtlichen und stadthistorischen Datum geworden, natürlich in erster Linie durch Goethes epochalen Roman. Und anders als das Buch des jungen Frankfurters und späteren Geheimrats, der bekanntermaßen auch seine eigenen Wetzlarer Erlebnisse und die Bekanntschaft mit Charlotte Buff in den Werther-Text eingearbeitet hat, ist Goués 1775 erschienenes Trauerspiel „Masuren oder Der junge Werther“ heute weitgehend vergessen. Ebenso wie der 1743 in Hildesheim geborene Autor, der seinen Protagonisten Masuren unsterblich in die mit einem Kronreferendarius verheiratete Franziska verliebt. Klar, diese Geschichte, die in Warschau spielt, geht nicht gut aus, denn als sich Masuren seiner Liebe körperlich nähert, wird der´s zuviel: „Masuren! Sie vergessen sich! (Sie entreißt sich seinen Armen) Das war das letzte Mal!
Masuren! Sie sehen mich nicht wieder! Es bleibt dabei.“ Für den jungen Helden ist diese Trennung der Todesspruch. Ganz ähnlich wie Werther leiht er sich von Franziskas Mann eine Pistole und erschießt sich. Doch wer nun glaubt, Goué habe einfach bei Goethe abgekupfert, der irrt, denn der Schriftsteller wirft einen ganz eigenen Blick auf die Ereignisse, auch dadurch, dass er in seinem Text mehrere Handlungsebenen miteinander verbindet. Eine durchaus spannende Lektüre und ein interessanter Autor, der im Juni 1767 nach Wetzlar kam – und zwar beruflich.

Rückblende: Wir schreiben den Mai 1767. Am Reichskammergericht, das seinen Sitz seit Ende des 17. Jahrhunderts in Wetzlar hat, wird die große Visitation gestartet, eine Art Bestandsaufnahme und Überprüfung. Aus vielen Teilen des deutschen Reiches strömen deshalb Juristen in die Stadt, die damals etwa 5000 Einwohner zählte und von einem ziemlichen Standesdünkel beherrscht gewesen sein muss. Das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel schickt den Hofrat Johann Jakob Höfler, der von seinem Legationssekretär Assessor August Siegfried von Goué begleitet wird. Quartier finden die beiden in der Apotheke „Zum Löwen“ am Eisenmarkt sieben – heute ein gastronomischer Betrieb – und das scheint auch schon die einzige Gemeinsamkeit gewesen zu sein, denn schnell mäkelt der scheinbar pedantische Höfler an seinem Untergebenen herum. Der nimmt´s gelassen – anders als sein Nachfolger Jerusalem, der nicht nur an enttäuschter Liebe sondern auch am beruflichen Druck gelitten haben wird. Ohnehin scheint dieser Goué, der von 1760 an in Halle Rechtswissenschaften studiert hatte und trotz seiner Entlassung 1771 bis 1772 in Wetzlar blieb, ein wahrer Hans Dampf in allen Gassen gewesen zu sein. Er war dem Feiern nicht abgeneigt, gehörte seit 1768 auch der hiesigen Loge der Freimaurer an und schwärmte zeitlebens für die seinerzeit in Deutschland beliebten Geheimbünde. In diesem Zusammenhang ist auch die Rittertafel im „Kronprinzen“ zu sehen, die Goué, der zahlreiche Gedichte und Dramen veröffentlichte und 1789 nach einem wechselvollen Leben in Burgsteinfurt verstarb, für einige Wochen zum Weggefährten Goethes machte. Und als sich der alternde Geheimrat daran macht, seine berühmte Autobiografie „Dichtung und Wahrheit“ zu schreiben, erinnert er sich nicht nur an Wetzlar, sondern auch an den Begründer der Rittertafel von 1771:
August Siegfried von Goué.

Literatur

  • August Siegfried von Goué: Masuren und Der höhere Ruf. Weimar: Gesellschaft der Bibliophilen, 1917. (Historisches Archiv der Stadt Wetzlar).
  • Bodemann, Eduard: Goué. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Hg. v. der historischen Commission bei der königlichen Akademie der Wissenschaften. Neudruck der ersten Auflage von 1879. Berlin: Duncker & Humblot, 1968.
  • Zastrau, Alfred: Goué. In: Neue deutsche Biografie. Hg. v. der historischen Kommission bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Duncker & Humblot, 1964.